Reformbewegungen
Reformen im Islam? Da schütteln viele unserer Zeitgenossen nur den Kopf: «Unmöglich». Alles ist festgefahren, sowohl der Koran, wie die Scharia. Und wenn schon: Islam-Reformer wurden immer wieder umgebracht, oder sie mussten flüchten.
Das FFI hält dazu fest: Der Islam hat unterschiedlichste Ausprägungen und die Scharia ist kein klar fassbares, codifiziertes Rechtssystem. Die zunächst nur mündlich überlieferte Botschaft des Korans bedurfte seit Anbeginn der Interpretation. Vor allem der Umstand, dass Mohammed ein neues, den Stammesgesellschaften und dem auserwählten jüdischen Volk gegenüberstehendes Gemeinwesen für alle Menschen schaffte, rief nach einem legislativen Rahmen. Und es gab Anweisungen für die rechtliche Urteilsbildung. Wegweisend waren verfahrensmässig der Konsens der Rechtsgelehrten und Analogieschlüsse sowie inhaltlich die Berücksichtigung des Gemeinwohls. Zweifelsohne war der Prophet eine Art Staatsgründer - und vor allem auch Sozialreformer.
Früh schon hatte sich die islamische Gesellschaft mit philosophischen Einflüssen aus dem antiken Griechenland und mit persischen Herrschaftsvorstellungen auseinanderzusetzen. Vorab die sog. Mu’tazila Bewegung verschrieb sich einer rationalen Kritik der Religion, ohne sich jedoch von ihr abzuwenden. Solche rationale Kritik wurde von der Orthodoxie alsbald bekämpft. Ihre Denkanstösse wirken aber bis heute nach.
Das Aristotelische und neuplatonische Gedankengut wurde von den Muslimen über Süditalien und vor allem Spanien nach Europa getragen – eine Kulturleistung erster Güte, die eng mit dem Philosophen Averroës verbunden ist.
Das osmanische Reich war in dieser Hinsicht weniger tragfähig. Umso stärker wogen zunächst seine verwaltungsmässigen und militärischen Kapazitäten. Als letztere an der westlichen Übermacht scheiterten, machte sich auf der arabischen Halbinsel eine islamische Reformbewegung bemerkbar: Der Wahhabismus reorientierte sich eng am Wort des Korans, nachdem das Verlassen dieses Pfades als Ursache der Niederlage empfunden worden war. Der Wahhabismus gilt heute als konservativste Form des Islam.
Die Auseinandersetzung mit dem Westen brachte jedoch auch neue reformatorische Impulse. Sie bezogenen sich zunächst zwar weniger auf die Religion selbst, als auf die gesellschaftlichen Belange. Nationalistisches Gedankengut prägte die grossen Umbrüche in der Türkei (Atatürk) und im Iran (Pahlevi-Dynastie), sozialistisches Gedankengut die Umbrüche in Ägypten (Muslimbrüder) und sowie im Iraq und in Syrien (Baath-Partei). Erst im Nachhinein kam es in diesen Staaten zu einer teils deutlichen Re-Islamisierung.
Was die Religion selbst betrifft, zeigen sich bei der Begegnung des Islam mit der Moderne vor allem – aber nicht nur – in der Diaspora immer wieder Reformbemühungen. Die Ansätze sind vielfältig. Sie reichen von der Übertragung der Botschaft des Korans auf die heutigen Verhältnisse (man spricht von einem Spannungsfeld zwischen Text und Kontext) bis zur Trennung von Botschaftskern und wesensfremden Zutaten. Auch wird die Überzeugung vertreten, dass dem Wesen des Islam - nämlich der Revolution gegen untragbare soziale Verhältnisse – immer wieder erneut Ausdruck gegeben werden soll. Dass Reformer durch Druck aus den islamischen Stammlanden und anderen traditionalistischen Kulturkreisen oft gefährdet sind, ist bis jetzt jedoch leider Tatsache.
Die Reformziele, welche auch das FFI verfolgt, umfassen die Anpassung des Islam an die Erfordernisse des heutigen gesellschaftlichen Lebens, die Konformität mit den UNO-Menschenrechtsdeklarationen und den Willen, als BürgerInnen und MuslimInnen einen Beitrag zur Bewältigung der Zukunftsprobleme der Menschheit zu leisten.
Peter Güller
Abu Zayd:
Spricht Gott nur Arabisch?
© Die Zeit 05/2003, Artikel online verfügbar
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